Mein Weg

Erst wenn wir nicht mehr weiter wissen, lernen wir uns selbst richtig kennen. (Henry David Thoreau)

Monte Rosa
Monte Rosa
Usseaux
Usseaux

Wie alles begann

Mein Weg begann im Warte­zimmer meines Zahn­arztes in Verden an der Aller. Ich stand kurz vor dem Abschluss meines Aufhebungsvertrags, hatte mehrere Wurzelbehandlungen hinter mir und ein Outdoor-Magazin in der Hand. Auf dem Cover stand der Satz: „Wo die Alpen noch richtig wild sind“. Es war der Titel eines Reiseberichtes über einen kaum bekannten, spektakulären Weitwanderweg im Piemont - eine Alpenüberschreitung, die in 65 Etappen den gesamten Westalpenbogen durchzieht. Ich erfuhr, dass die „Grande Traversata delle Alpi“, kurz GTA, über eine Strecke von rund 1.000 Kilometer und 65.000 Meter Höhendifferenz von der Schweizer Grenze bis ans Mittelmeer führt. Was für ein Weg! Doch wer hat schon zwei Monate Zeit, um diese Strecke in einem Stück zu gehen? So ähnlich fragte der Autor im Text, und mir war sofort klar: Das war ich. Das war MEIN WEG. Drei Tage nach Vertragsabschluss ging ich los. Ich bin diesen Weg bis zum Ende gegangen. Und damit fing ein neues Leben an.
 
Sehnsucht
Ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen; wir hatten wenig Geld und wenig Platz. Gespielt wurde in der Regel draußen, bis die Kirchenglocke um sechs zum Abendbrot rief. Drinnen war ruhig sein, anpassen und funktionieren angesagt. Mein Vater war starker Raucher, ich hatte Asthma und chronische Bronchitis. Als ich etwa sieben Jahre alt war, konnten sich meine Eltern zum ersten Mal einen Urlaub in den Bergen leisten. In unserem alten VW Käfer fuhren wir für drei Wochen nach Osttirol. Für 35 Schilling, umgerechnet fünf Deutsche Mark, bekam man dort ein Doppelzimmer mit Frühstück. Und vieles mehr: Eine unglaubliche Weite, reine und klare Luft, freie Atemwege, vollwertiges Essen, dazu die Herzlichkeit, Freundlichkeit und Dankbarkeit unserer Gastgeber, alle diese Dinge haben sich tief in mein Bewusstsein eingeprägt. So wurden die Alpen vor fünfzig Jahren zu meinem Sehnsuchtsort. Sie sind es bis heute geblieben.
 
Sparprogramme
Als mir der besagte Reisebericht in die Hände fiel, ging es mir gar nicht gut. Und dem Konzern, bei dem ich zu dieser Zeit angestellt war, auch nicht. Eine ganze Serie von Umstrukturierungs- und Effizienzsteigerungs­programmen hatte die Bilanzen kaum verbessert, dafür die einstmals positive Unternehmenskultur weitgehend hinweggefegt. Unter den Mitarbeitern herrschte große Ungewissheit, niemand wusste, wie es weitergeht. Welche Bereiche würden dem nächsten Sparprogramm zum Opfer fallen? Welche Standorte waren noch sicher, welchen drohte die Schließung? Viele meiner Kollegen waren bereits outgesourct worden, andere aus eigener Initiative gegangen. Als Spezialist für Trainings, Datenbanken und Qualitätsmanagement hatte ich meine Tätigkeit dort begonnen und verschiedene Stabs- und Querschnittsfunktionen im Projekt-, Prozess- und Wissensmanagement durchlaufen. Im Zuge des Konzernumbaus waren diese Unterstützungsfunktionen in mehreren Wellen zum größten Teil ausgelagert oder abgeschafft worden. Was übrig blieb, hatte mit meinem ursprünglichen Kompetenzprofil, das im Kontext von Lernen und Wissen angesiedelt war, nicht mehr viel zu tun. Der Faktor Mensch - sei es als Kunde oder Mitarbeiter - rückte nicht nur in den Hintergrund, er schien im Kontext fortschreitender Standardisierung, Automatisierung und Digitalisierung geradezu zum Störfaktor zu werden. Gelebte Werte wurden durch billige Phrasen, authentische Führungspersönlichkeiten durch Karrieristen und Konformisten ersetzt. Und während meine Arbeitsumgebung immer chaotischer und unberechenbarer wurde, nahmen der Umfang und die Komplexität meiner neuen Aufgaben stetig zu. Vielfältige technische Probleme, permanenter Zeitdruck, ständig wechselnde Abläufe und Systeme ließen mich nicht mehr zur Ruhe kommen. Ich wurde nachts immer häufiger wach, träumte von Fehlerquellen in undurchschaubaren Abläufen. Dafür hatte ich tagsüber oft mit Müdigkeit zu kämpfen. In längeren Meetings konnte das peinlich werden. Auf der Autobahn, auf meinem einstündigen Heimweg, wurde es mitunter lebensgefährlich.

 
Vergangenheitsbewältigung
Auch in der Familie gab es grundlegende Verände­rungen. Mein Vater war gestorben, meine Mutter auf eigenen Wunsch in eine Seniorenresidenz gezogen. Ich hatte die Aufgabe übernommen, den elterlichen Haushalt aufzulösen. Was da alles noch einmal aufgewühlt wird, ganz buchstäblich. Was im Laufe der Jahre alles weggelegt und zugedeckt wurde, es wird noch einmal lebendig. Und du wirst wieder ein Stück zum Kind, egal, wie alt du inzwischen bist. Welche Botschaften haben dir deine Mutter und dein Vater mitgegeben? Wie wollten sie dich haben? Was ist wirklich wichtig, was bleibt am Ende von alledem? Der Tod kann ein Anlass sein, bewusster mit diesen Dingen umzugehen, das eine oder andere auch loszulassen. Was natürlich niemals ganz gelingt. Aber mit etwas Reife und Abstand stellt sich oft eine neue, innere Freiheit und Gelassenheit ein. Und ein Gefühl für das Wesentliche. Das ist viel wert.

 
Gemeinsam einsam
Auch meine Partnerschaft war im Laufe der Zeit zur Dauerbaustelle geworden. Nach langjähriger Fernbeziehung hatten wir uns beide für einen neuen, gemeinsamen Wohnort entschieden, doch keiner von uns war dort wirklich angekommen. Die räumliche Nähe änderte nicht wirklich etwas an den Problemen, die wir beide dorthin mitgebracht hatten. Unsere inneren Vorstellungen förderten noch die Bereitschaft, das Beste, was wir hatten, einer Arbeitswelt zu opfern, in der es im Grunde nur noch um Funktion und Verwertbarkeit geht. Und ich dachte lange Zeit: So ist das eben. Das Leben ist kein Ponyhof. Also Augen zu und durch. Kopf hoch. Muss ja. Den Anderen geht es auch nicht besser. Diese Gedanken nagten an meiner Würde, an meiner Selbstachtung und an meinem Mitgefühl. Sie versperrten mir den Weg zu mir selber, zu dem, was ich wirklich bin und wünsche und brauche. Und damit auch zu den Menschen um mich herum, denn ohne mit mir selber gut verbunden zu sein, konnte ich keine authentische Beziehung eingehen. Ich sah mich in der Pflicht, permanent Leistung zu bringen, liefern zu müssen - und rebellierte innerlich dagegen. Zog mich zurück, stürzte mich in die Gartenarbeit, lernte das Westernreiten, fand dort etwas Ausgleich und Erdung und spürte immer deutlicher, dass in meinen Leben etwas Grundsätzliches fehlte. Drehte sich denn alles nur um Leistung, Attraktivität, Sicherheit, Status und Geld? Ich sehnte mich nach Verbundenheit, Wertschätzung, Interesse, Sinn und Resonanz. Aber ich fand keinen Weg dorthin, es war wie verhext.

 
Selbstzweifel
Ich hatte schon immer das vage Gefühl, trotz Einser-Abi und zahlreicher Talente, irgendwie nicht "richtig", nicht gut genug zu sein. Wer so ein Muster mit sich herum­trägt, der ist natürlich dem „höher, schneller, weiter“ der Arbeitswelt stärker ausgeliefert als jemand, der sich seines Wertes bewusst ist. Wenn du deinen Sinn und deine Werte in dir selber findest, in der Verbundenheit zu den Menschen, die dir nahe sind, in deiner Liebe zur Natur oder zur Kunst, dann kannst du für deine Wünsche und Bedürfnisse besser einstehen. Dann weißt du, wer du bist und was du willst. Und wenn es einmal schwierig wird, spürst du, wo deine Grenzen sind, kannst sie den anderen zeigen und notfalls auch verteidigen. Damit hatte ich lange Zeit Schwierigkeiten. Ich lebte in dem Gefühl, stets funktionieren zu müssen, so als wäre ich gar nicht da, als hätte ich keinen Anspruch auf ein eigenes Leben. Versuchte, es allen irgendwie recht zu machen. Biss die Zähne zusammen und ignorierte alle Warnsignale meines Körpers. Davon gab es viele, und es wurden immer mehr. Es half nichts. Ich wurde krank, immer öfter und immer länger. Und irgendwann wurde ich gar nicht mehr richtig gesund. Ich hatte Infekte aller Art, Schlafstörungen, Migräne, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen, Verdauungsprobleme, Kieferentzündungen, eine steife Schulter – und so langsam dämmerte es mir, was hier das Problem und was mein Anteil an der Geschichte war. Jedenfalls wurde mir bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich musste etwas tun, und vor allem musste ich meine Haltung zu mir selber ändern.

 
Ruf der Wildnis
Und da stand er plötzlich vor mir: Mein Sehnsuchts­ort. Da will ich hin – wo die Alpen noch richtig wild sind! Innerhalb von Sekunden fiel mein Entschluss, das Weite zu suchen und alles hinter mir zu lassen. 1.000 km unberührtes Hochgebirge vor mir und weit dahinter irgendwo das Meer – das war genau das, was ich brauchte. Ich wollte frei sein, wollte leben, endlich meinen eigenen Weg gehen! Ich hatte genug vom Funktionieren, von dieser typisch männlichen, verinnerlichten Selbstinstrumentalisierung, von all den Erwartungen, die andere an mich herantrugen. Das hier war etwas anderes, dieser Ruf ging an mich persönlich. Das war MEIN WEG. Aufgrund der Höhenlage ist die GTA, die „Grande Traversata delle Alpi“, nur zwischen Juni und September begehbar. Als ich das erfuhr, war Mitte Juni - es konnte also sofort losgehen.

 

Abschied

Nach allerlei Gesprächen und zähen Verhandlungen um Freistellung und Abfindung unterschrieb ich am Dienstag, den 23. Juni 2015 meinen Aufhebungsvertrag. Anschließend gab ich meinen Mitarbeiterausweis und die firmeneigenen "Assets" wie Notebook und Smartphone zurück und ging durch die doppelt gesicherte Eingangspforte hinaus - zum definitiv letzten Mal. Dabei kam mir unwillkürlich Audrey Hepburn in den Sinn, wie sie im Filmklassiker „Geschichte einer Nonne“ am Ende den Habit ablegt, ihre persönlichen Sachen wieder anzieht und den Konvent ein für alle Mal verlässt. Wie sie durch eine Art Schleuse wieder in die freie Welt hinaustritt, ohne zu wissen, was vor ihr liegt. Ich wusste auch nicht wirklich, wohin. Doch ich wusste sehr genau, was ich nicht mehr wollte. Ich hatte die Konsequenzen gezogen und endlich eine Entscheidung getroffen. Es kam wieder Bewegung in mein Leben. Wenige Wochen später - soviel sei vorweggenommen - waren alle meine Beschwerden verschwunden. Ich war so gesund wie nie zuvor.

 

Fortsetzung folgt

Aufstieg zum Rocciamelone
Aufstieg zum Rocciamelone
Wegverlauf der GTA
Wegverlauf der GTA

Wo gehen wir denn hin?

Immer nach Hause.

(Novalis)